Orpheus, der Sänger, ist eine zentrale Gestalt der Mythologie des klassischen Altertums und gewann durch Ovids „Metamorphosen“ große literarische Bedeutung. Bereits die ersten, in der italienischen Renaissance entstandenen Opern befassten sich mit dem Mythos des Orpheus, der als die Inkarnation des Sängers gilt.
Zahlreiche andere Vertonungen folgten – bis ins 21. Jahrhundert hinein. Als beliebteste Version des Stoffes erwies sich die 1762 in Wien uraufgeführte Oper „Orfeo ed Euridice“ von Christoph Willibald Gluck. Sie ist bis heute ein Dauerbrenner in allen Opernhäusern der Welt.
Damiano Michieletto inszeniert an der Komischen Oper Berlin
Die Komische Oper Berlin überrascht nun mit einer Neuinszenierung von dem renommierten italienischen Starregisseur Damiano Michieletto. Er will zeigen, was den Orpheus-Mythos mit unserem Leben heute verbindet. Das ist ihm hervorragend gelungen, indem er aus der Oper so etwas wie eine Lehrstunde der Liebe macht: Zu Beginn sitzen sich ein Mann und eine Frau an einem leeren Tisch gegenüber. Sie sieht genervt aus und ist kurz davor, aus der Haut zu fahren; er ist hochnervös, wippelt mit den Beinen, wird immer unruhiger, steht schließlich auf und will mit einem bereitstehenden Koffer die gemeinsame Wohnung verlassen.
Es ist eine geradezu klassische Situation für all jene Paare, denen die Liebe irgendwie und plötzlich abhandengekommen ist. Deswegen ist das Bühnenbild von Paolo Fantin auch so abstrakt: Überall nur weiße Wände, die weder in Zeit noch Ort lokalisierbar sind. Eine solch alltägliche Geschichte kann sich halt überall und zu jeder Zeit abspielen.
Kahl, weiß, unpersönlich: So beginnen Orfeo und Euridice.
Quelle: Freese/drama-berlin.de
In dem Augenblick aber, wenn Orfeo mit seinem Koffer gehen will, beginnt seine imaginäre Reise. Er ist plötzlich in einem Krankenhaus, weil Euridice etwas zugestoßen ist. Rastlos und nervös geht er hin und her zwischen den Kranken, die in dem kahlen Aufenthaltsraum warten. Plötzlich tritt Amor in der Gestalt eines Zauberers auf und verkündet ihm, dass er Euridice zurückbekommen kann, wenn er sie auf dem Weg ins reale Leben nicht anschaut und ihr auch nicht erklärt, warum er so handeln muss.
Orfeo ed Euridice: Eine Geschichte voll Verzweiflung und Magie
Nun beginnen dramatische Zeiten, denn die Auseinandersetzung mit den seelenlosen Bewohnern der Unterwelt erweist sich als äußerst schwierig und oft auch hoffnungslos. Mit immer neuen Figuren und einer Unmenge von schwarzen Tüchern hat Orfeo zu kämpfen – bis er schließlich seine magische Leier wiederfindet und die Probleme lösen kann. Aus all diesen schwarzen Tüchern taucht Euridice schließlich auf und versucht, Orfeo zu folgen. Sie ist verzweifelt, weil er ihr lieblos erscheint. Wegen all ihrer Klagen dreht er sich endlich um zu ihr – und verliert sie für immer.
Verzweifelt findet Orfeo sich wieder im Krankenhaus, geht von Patient zu Patient und fragt, was er denn nun machen soll ohne Euridice („Che farò senza Euridice?“). Ihre Leiche wird ihm gezeigt und dann – ein plötzlicher Wasserguss von oben: Die Geliebte ist zu neuem Leben erweckt. Das Schlussbild gleicht dem Anfang. Beide sitzen abermals am Tisch, diesmal aber schauen sie sich glücklich und voller Liebe an – der Ehestreit ist beendet. Amor trägt den Koffer weg, mit dem eigentlich Orfeo verreisen wollte: „Trionfi d‘amore!“, singt der Chor – Ende gut, alles gut!
One-Man-Show: Carlo Vistoli singt und spielt den Orfeo
Glucks Oper in ihrer Wiener Originalfassung ist fast eine One-Man-Show, denn Orfeo ist eigentlich ständig auf der Bühne und hat entsprechend viel zu singen. Früher wurde diese Partie von Mezzosopranen gesungen, aber seitdem es an Countertenören keinen Mangel mehr gibt, kann man sie immer häufiger in dieser Rolle erleben – so auch in Berlin.
Carlo Vistoli spielt und singt den Orfeo.
Quelle: Freese/drama-berlin.de
Der 1987 in Lugo bei Ravenna geborene Carlo Vistoli ist geradezu prädestiniert für die Partie des Orfeo: Er ist jung und sportlich und verfügt über einen betörend schönen Countertenor. Mit ihm die Arie „Che farò senza Euridice?“ zu hören, zu sehen wie er verzweifelt die ihm fremden Menschen in einem Krankenhaus anspricht und immer wieder dieselbe Frage stellt – wie sein Leben denn nun ohne die Geliebte weitergehen soll – ist herzzerreißend.
Die gebürtig aus Husum stammende Sopranistin Nadja Mchantaf, die in Berlin bereits mehrere große Rollen gesungen hat, ist eine Euridice der Superklasse. Wie ungemein angstvoll und traurig und auch aggressiv ist sie, wenn sie glaubt, dass Orfeo sie nicht mehr liebt. Josefine Mindus erweist sich als charmanter Amor.
Unter der Leitung des Barockspezialisten David Bates spielt das Orchester der Komischen Oper Berlin mit Verve und zupackender Dramatik, ohne über die feinen Zwischentöne hinwegzugehen. Großes Lob auch für den Chor, das Vokalconsort Berlin.
Weitere Vorstellungen: 29. Januar, 6./12./25. Februar, 6. März, 3. /7. Juli 2022, www.komische-oper-berlin.de